Tore Meineckes Rat an die Jugend

Von Quickborn bis auf Platz 47 der ATP Rangliste.

Fair geht vor

Was unterscheidet den Tennisprofi aus dem internationalen Profitennis von den Spielern, die ihr Talent auf den kleineren Turnieren zur Schau stellen? Um Vorurteilen vorzubeugen: es ist weder die Athletik, noch ist es die Technik. Es ist die Einstellung. Was diese Einstellung kennzeichnet, kann die folgende Episode verdeutlichen. (von Björn Meinecke)

„Viva Viver!“ Mein jüngerer Bruder Tore spielte eine ATP-Turnierserie in Brasilien. Das letzte Turnier vor dem Masters fand in Sao Paolo statt. Tore hatte die erste Runde gewonnen und konnte sich mit dem nächsten Sieg für das Masters qualifizieren. Und damit einen gewaltigen Sprung nach vorn in der Weltrangliste machen. Er trat dazu gegen Raul Viver an, den schon etablierten Davis Cup-Spieler aus Ecuador. Der erste Satz war hart umkämpft: bei 5:5 und Einstand schlug Viver auf. Auf seinen Service rückte der Südamerikaner an das Netz vor. Tore returnierte die Außenlinie entlang - unerreichbar für seinen Kontrahenten - und der Ball landete im Linienbereich. Spontan entschied der Schiedsrichter: “Out! - Advantage Viver.“ Viver sah sich den Ballabdruck an und korrigierte die Entscheidung, indem er seine Handfläche nach unten drückte - die Geste für „in!“ Der Schiedsrichter schien verwirrt, berichtigte aber nach kurzer Diskussion mit dem Ecuadorianer sein Urteil: „Advantage Meinecke.“ Tore gewann den ersten Satz 7:5. Auch im zweiten Satz kämpften die beiden Konkurrenten auf ausgeglichenem Niveau: bei 6:5 servierte Viver zum Satzgewinn. Diesmal entwickelte sich ein langes Grundlinienduell. Als der Südamerikaner dann einen Ball etwas zu kurz zurückspielte, griff Tore mit einem platzierten Schlag in die gegnerische Ecke an. Bevor sein Gegner den Ball zurückschlug, ertönte das Urteil des Unparteiischen: „Out!“ Viver verschlug den Passierball – aber mein Bruder hatte sich schon abgewandt und auf dem Weg zu seiner Bank gemacht. Für ihn war der Satz verloren. Nicht für Viver. Noch einmal korrigierte er die Entscheidung des „Umpires“ zu Gunsten Tores! Er gewann die nächsten beiden Punkte, den Satz, das Match und hatte damit das Masters erreicht.

Irritiert von den ungewöhnlichen Ereignissen fragte ich später Viver, warum er so über alle Maßen fair gehandelt hatte. Er antwortete: Er hatte sich bei seinen Kollegen aus der Profizunft über seinen jungen deutschen Gegner erkundigt. Alle hatten geäußert, dass Tore bisher als ein außergewöhnlich fairer Spieler aufgefallen sei - im Gegensatz zu den anderen „wild boys“, die in die Weltrangliste stürmten. „Ist es nicht einleuchtend und logisch, dass wir erfahrenen Profis diejenigen unterstützen, die mit ihrem Verhalten dafür sorgen, dass es auch in Zukunft fair und professionell auf den ATP-Turnieren zugeht?“

Er erläuterte diese professionelle Einstellung noch deutlicher: „Wir haben keine Lust, um jede knappe Entscheidung verbal streiten zu müssen! Das kostet unnötige Energie. Es vermindert nur die Konzentration auf das Wesentliche. Wir ziehen uns die jungen Spieler heran, die auch in Zukunft dafür sorgen, dass es eine gemeinsame Basis für unsere Wettkämpfe gibt!“ Jetzt hatte ich es begriffen: Viver hatte so ungewöhnlich fair entschieden, um in erster Linie überflüssige Störungen und unnötigen Stress zu vermeiden.

Tore mit seinem Bruder und Coach Björn.

Im zweiten Schritt hatte er sich über die Gegenwart und seine eigenen kurzfristigen Ziele hinaus Gedanken gemacht und seine Handlungen auf eine sinnvolle Zukunft seines Berufsfeldes ausgerichtet. Hier offenbarte sich mir ein wahres professionelles Denken, das Verantwortung für das Tätigkeitsfeld übernimmt und das gesamte Berufsfeld auch für die Zukunft sichern will. Während der Ballwechsel ist der Gegner der Kontrahent, den man mit seinen sportlichen Mitteln besiegen will. Dabei hält man sich an die Regeln des Spiels. Wenn Probleme auf der Regelebene entstehen, wird der Gegner zum Berufskollegen. Im Interesse einer Sicherung der gemeinsamen Zukunft wird die Leistung des Kollegen anerkannt, auch - oder gerade - wenn der Schiedsrichter sich eine Fehlentscheidung getroffen hat. Die erste Regel, die man aus dieser Episode ableiten kann, lautet: Im Profitennis gibt es ein System, das von den internen Absprachen der Akteure geprägt ist. Betritt man als „Newcomer“ dieses Gebiet, sollte man sich vorher gut informieren, um diesem Geheimcode nicht zum Opfer zu fallen. Die zweite Regel, die sich aus der Geschichte ableiten lässt, hat mit der professionellen Einstellung zu tun: Der Berufsspieler hat nicht nur seinen eigenen kurzfristigen Fortschritt vor Augen, sondern übernimmt auch langfristige Verantwortung für das Gesamtsystem, in dem er agiert. Er übernimmt Verantwortung, weil dieser Einsatz auf Dauer die Karrieren aller Spieler stressfreier und damit lebenswerter gestaltet. Auf dem Platz wird mit sportlichen Mitteln gegeneinander gekämpft, außerhalb des Platzes ist man solidarisch!

Häufig hatte ich später auf Jugendturnieren in der Provinz an Vivers Ausführungen denken müssen, wenn die „lokalen Hoffnungen“ laut um Entscheidungen stritten. Wenn betriebsblinde Eltern oder Trainer zum kurzfristigen Vorteil ihrer Schützlinge auch noch von außen in die Auseinandersetzungen eingriffen, und der Tennisplatz nicht mehr einem Sportplatz glich sondern eher einer wilden Parlamentsdebatte mit den wütenden verbalen Äußerungen der einzelnen Parteipolitiker.

Tore im Finale der deutschen Meisterschaften. Dieses Match gegen Rolf Gehring verlor er in fünf Sätzen.

Wer diese Episode als zu idealistisch oder zu romantisch bewertet. dem kann ich mit der nächsten Geschichte aus dem Profizirkus dienen. Protagonist ist wieder mein Bruder Tore, der unter der Leitung des DTB-Trainers Claus Hofsäß für das deutsche Nachwuchsteam ein Turnier in Nizza spielte. Sein Zweitrundengegner war der Schwede Kent Carlsson, bekannt als der „Zappelphillip“ oder auch als das „Stehaufmännchen“. Im entscheidenden 3. Satz hatte Tore einen Passierschlag seines Gegners gut gegeben, obwohl der Schiedsrichter vorher auf „Aus“ entschieden hatte. Tore verlor das Match dann denkbar knapp im Tiebreak.

Nach dem letzten Punkt rannte Hofsäß stark emotionalisiert auf den Platz und stellte seinen Schützling zur Rede: „Das war total unprofessionell! Im Profitennis entscheidet der Schiedsrichter. Das ist eine Regel – und alle Spieler richten sich danach! Keiner wird zu seinem Nachteil Entscheidungen korrigieren! Du hättest mit diesem Punktgewinn wahrscheinlich das ganze Match gewonnen!“

Tore schaute zweifelnd seinen Teamleiter an und antwortete: „Wie willst du wissen, dass ich das Spiel ohne die Korrektur gewonnen hätte? Ich hätte mir soviel Gedanken um meinen Betrug gemacht, dass ich wahrscheinlich in den nächsten Punkten und Spielen keinen Ball mehr getroffen hätte! Dann hätte ich also schlechter gespielt und auch verloren. So habe ich gut gespielt, und mein Gegner hat trotzdem gewonnen. Wenn ich die einzelnen kleinen Schwächen in meinem heutigen Spiel in Zukunft auch noch korrigiere, dann werde ich Kent schon im nächsten Aufeinandertreffen besiegen können!“

Tore hat gemäß seines Charakters und seines Selbstbildes reagiert. Und er hat in seiner Jugend sicherlich auch einige Fehlentscheidungen getroffen. Aber seine Antwort wirft einige Fragen auf, über die es sich lohnt, weiter nachzudenken: Dient es dem Selbstvertrauen eines Spielers, wenn er verlorene Punkte trotzdem für sich reklamiert? Weiß er nicht hinterher, dass er nur mit Betrug sein Ziel erreicht hat? Vertraut er dann in Zukunft seinen sportlichen Fähigkeiten, oder verlässt er sich mehr auf seine unsportlichen Entscheidungen? Ist eine bewusste Fehlentscheidung, die kurzfristig zum Punkt- oder gar Spielgewinn führt, wirklich auch langfristig von Erfolg gekrönt? Ist der „Sieg mit allen hässlichen Mitteln“ im Tennis, das berühmt-berüchtigte „winning ugly“, die Schule für das „wirkliche Leben“? Wollen wir wirklich auf dem Sportplatz die Talente fördern, die später in der neoliberalen (Finanz-) Wirtschaft den Ellbogen nicht zum Tennisschlag, sondern zum „aus dem Feld schlagen“ jeglicher Konkurrenten nutzen? Ist die Erziehung zur Aufrichtigkeit nicht ein sinnvolles Ziel der sportlichen Ausbildung? Hat derjenige, der aufrichtig agiert, sich also nicht von fremden Einflüssen verbiegen lässt, den Vorteil, nicht am Druck von außen zu zerbrechen? Hängt diese Aufrichtigkeit nicht mit einem realen Selbstbewusstsein zusammen, das seine eigenen Stärken aber auch eigenen Schwächen kennt? Ist dieses Wissen um die eigene Stärke, aber auch um die zu verbessernden Schwächen nicht die beste Voraussetzung, um sich weiter entwickeln zu können? Um Schritt für Schritt seine gegenwärtigen Leistungsgrenzen zu überwinden. Ist hier nicht das Geheimnis des sportlichen Erfolges zu erkennen?

Der Autor dieses Textes weiß um den Verdacht der unzeitgemäßen Sportromantik, der aus diesen Fragen sprechen könnte. Er glaubt aber, dass diesen Gedanken ganz pragmatische psychologische Realitäten zugrunde liegen. Er will auch keine festen Überzeugungen vermitteln, sondern nur nicht ganz richtige Überzeugungen „ins Wanken“ bringen, damit alle Betroffenen und Verantwortlichen sich vertiefende Gedanken darüber machen und dabei vielleicht zu individuell nachhaltigen Lösungen kommen. Noch einige Worte zur Einordnung meiner Ausführungen: Das Ereignis in Nizza war zeitlich vor dem Erlebnis in Südamerika. Kann man Vivers Reaktion nicht als professionelle Unterstützung und Begründung von Tores Einstellung bewerten?

Trotz des Matchverlustes gegen Kent Carlsson gehörte Tore Meinecke nicht einmal zwei Jahre später zu den Top 50 der ATP-Herrenweltrangliste. Vielleicht auch, weil er ein klares und realistisches Selbstbewusstsein entwickelt hatte. (Björn Meinecke)

Björn Meinecke

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